Die Tugend der Tapferkeit

Der heutige Glaubensvortrag handelt also von der hohen Tugend der Märtyrer, nämlich der Tapferkeit. Denn es geht bei ihr – wie JOSEPH PIEPER es ausdrückt – um das Schwerste für uns Menschen: selbst im Angesicht des Todes bereit sein zu kämpfen und auszuhalten.
Unser Blick fällt dabei zunächst auf den Heiland selbst, wie er nach dem Abendmahl am Ölberg betet, von Furcht und Traurigkeit bis in die Seele hinein getroffen. Nein, Tapferkeit heißt keineswegs Furchtlosigkeit vor dem Furchtbaren, wie wir an seinem Beispiel sehen können, sondern trotz und mit dieser Furcht nicht vor dem Schrecklichen zu fliehen, sondern ihm tapfer standzuhalten. Das ist Tapferkeit. Sie ist so wesentlich, daß es ohne sie kein christliches Leben gibt. Denn nur der Tapfere besitzt sich selbst, im Angesicht der Gefahr.
Doch zutiefst weltfremd scheint diese Tugend gerade heute, wo Alles in unserer Welt in den Strudel der Auflösung und der Korruption auf das Niedere und Anspruchslose hin geraten ist. Die sittliche Schwäche, die große Teile der Menschheit ergriffen hat, drückt sich heute ganz augenscheinlich in der Schwäche der Tapferkeit aus. Denn der zum passiven Konsumenten degradierte Mensch versagt genau da, wo das Gute von ihm Überwindung und Kampf kosten würde, wo es das “bonum arduum”, also das “steile Gut” ist, das nicht nebenbei und bequem erreichbar ist, sondern wo es die Grundtugend der Tapferkeit braucht. Rainer Maria Rilke, der ja übrigens die Militärrealschule am Ende des 19. Jahrhunderts in St. Pölten besuchte, drückt diesen Niedergang der Tapferkeit, der ihm schon damals vor Augen war, mit dichterischen Worten so aus: “Die Leute haben alles nach dem Leichten hin gelöst und nach des Leichten leichtester Seite … Daß wir uns aber zu Schwerem halten müssen, ist eine Sicherheit, die uns nicht verlassen wird”. Die Tugend der Tapferkeit wird auch Tugend des Stark-mutes genannt, weil sie uns festen und entschlossenen Mutes die Gefahren bestehen und die Übel geduldig ertragen läßt, die die Mühe um das “Steilgut” begleiten. Deshalb kann nur da, wo ganz allgemein die Grundlage der Willenskraft in einem Menschen stark ist, auch die Tugend der Tapferkeit blühen und gedeihen. Betrachten wir sie nun aber näher, damit wir sie besser kennen- , vor allem aber lieben und üben lernen.

1) Der Tugendrang der Tapferkeit und ihr Verhältnis zu Klugheit und Gerechtigkeit
Sie ist eine Charaktertugend, die nicht dem geistigen Verstehen und Wollen, sondern dem sinnlichen Strebevermögen des Menschen zugeordnet werden muß. Genauer gesagt, dem muthaften oder zürnenden Strebevermögen, das erst durch die Tugend der Tapferkeit in eine von der Vernunft geleitete und somit sittlich gute Leidenschaft verwandelt wird. Das christliche Menschenbild ist ja nicht – wie manche leider meinen – leidenschaftsfeindlich, so als ob jede Leidenschaft sittlich schlecht wäre. Das christliche Menschenbild unterscheidet sich darin findamental vom stoischen Menschenbild, das als sittliches Ideal für den Menschen eine möglichst apathische, durch nichts aus der Ruhe zu bringende Leidenschaftslosigkeit sieht. Das christliche Menschenbild bejaht hingegen die Leidenschaften im Menschen, aber es setzt sie unter die Herrschaft der Vernunft und des Willens, eine Herrschaft, die durch das Tugendbemühen errungen wird. Leidenschaften dürfen deshalb auch niemals an der ersten Stelle für das Entscheiden und Tun des Menschen stehen, sie dürfen ihn also niemals leitend bestimmen, sondern die Leidenschaften brauchen ihrerseits Leitung und Maß. Wenn heute so viel vom “Bauchgefühl” die Rede ist, an das man sich bei Entscheidungen halten solle, so ist dies ein fataler Irrtum der wahren Sicht des Menschen und der inneren Ordnung seiner Kräfte: einfach weil das eigene Gefühl blind ist, weil es zunächst immer dem sinnlichen Eigeninteresse des Menschen zuneigt, so aber erst durch die Leitung von Vernunft und Willen in den Gleichklang mit dem Wahren und Guten kommen kann.
Folgerichtig ist auch die Tapferkeit nicht die erste, sondern die dritte der vier Kardinal- oder Grundtugenden. Denn sie muß der Klugheit und der Gerechtigkeit untergeordnet bleiben. Nur der kluge Mensch kann auch tapfer sein, weil erst die Klugheit das richtige Einschätzen und Wählen des Guten ermöglicht. Wenn aber – so wie heute leider vielfach – Klugheit mit Schlauheit verwechselt wird, ist sie geradezu das Gegenteil von Tapferkeit, weil der Schlaue, dessen Eigeninteresse immer an der ersten Stelle steht, sich dem gefahrvollen und anspruchsvollen Einsatz für das Gute zu entziehen sucht. Auch die Gerechtigkeit geht der Tapferkeit immer voraus, ja der Tapfere muß sich im Einsatz an der Gerechtigkeit bewähren. Denn nur die Gerechtigkeit hält die Tapferkeit auf das Tun des Guten hin. Vom hl. Ambosius stammt deshalb der Ausspruch: “Tapferkeit ohne Gerechtigkeit ist ein Hebel des Bösen”.

2) Was macht die Tugend der Tapferkeit aus?
Die Tapferkeit ist jene Charakterhaltung, die bereit ist, um des Guten willen Verwundungen hinzunehmen, ja selbst den Tod. Tapferkeit hat aber weniger mit dem Grad der Gefahr zu tun, der man sich aussetzt, als vielmehr mit der Bereitschaft, auch unter Gefahren und Beschwernissen für das Gute und das Gerechte einzutreten. Sie befähigt uns in allen Lagen und jederzeit, die Angst zu besiegen und allen Prüfungen und Verfolgungen die Stirn zu bieten.
Allerdings geht es bei der Tapferkeit niemals darum Verwundungen im Kampf um das Gute zu suchen, was oft ein Zeichen des sündhaften menschlichen Stolzes ist. Auch geht es bei der Tapferkeit nicht um ein “Leiden um des Leidens willen” oder um psychisch kranke (masochistische) Formen des Leidens, sondern um das tiefe Wissen, daß die Verwundungen in diesem Leben immer nur das Vorletzte sind und daß sie deshalb für das letzte und höchste Gut der Liebe Gottes tapfer geopfert werden können und müssen.
Die Tugend der Tapferkeit äußert sich 1) aggressiv-kämpferisch im Anpacken oder In-die-Hand-Nehmen von dem, was im Sinn des Steilgutes aktiv zu tun ist. Eine spießbürgerliche Meinung sagt, daß das Wahre und Gute sich ohne den Einsatz der Person “von selbst” durchsetzt. Diese Meinung ist ein Zeichen von Wirklichkeitsverweigerung und von Feigheit. Es braucht eben die Tapferkeit im Anpacken des Schwierigen.
Dann aber zeigt sich die Tugend der Tapferkeit 2) passiv-hinnehmend im Widerstehen und Standhalten bei Schwierigkeiten und andauernden Mühen, um das, was zu tun ist, auch gut zu Ende zu führen. Um die Tugend der Tapferkeit herum stehen andere Tugenden, die sie ergänzen, nämlich die mehr “aktiven” Tugenden des kampfbereiten Mutes und der Zuversicht, dann die mehr “passiven” Tugenden der Geduld und der Beharrlichkeit.

3) Die Tugend der Tapferkeit hält die Mitte zwischen den Extremen der Feigheit und der Tollkühnheit. Der Feige fürchtet sich vor den steilen Mühen des Guten, sodaß die gute Handlung verhindert wird. Der Tollkühne hingegen setzt sich unnötigen und unangemessenen Gefahren aus. Beide Haltungen verderben die Tugend der Tapferkeit, weil sie sich der nötigen Herrschaft der Vernunft entziehen, so aber gleichzeitig unklug und ungerecht sind.
Als der hl. Franz von Sales einmal als Fürstbischof von Genf in eine etwas entfernte Stadt reisen musste, beschloss er kühn, den kürzeren und einfacheren Weg durch die Stadt Genf zu nehmen, obwohl er im kalvinistischen Genf ganz oben auf der Liste der zu verhaftenden Personen stand. Gedacht, getan. Am Stadttor sagte er auf die Frage, wer er sei, der Wahrheit gemäß, daß er der Fürstbischof von Genf sei. Weil die Soldaten dachten, daß sich jemand einen dummen Scherz mit ihnen erlaube, ließen sie ihn ungehindert passieren und er kam sicher durch. Später schrieb er dazu, daß er dies tat ohne alle Furcht, “mit einer gewissen Kühnheit, in der aber mehr Einfalt als Klugheit war.”
Sicher gehört der Mut zum Martyrium zur Tugend der Tapferkeit des Christen. Und das tugendhafte Leben darf niemals eine bloß vorsichtig abwägende “Gewinn- und Verlustrechnung” sein, immer ängstlich darauf bedacht, nur ja keine Mühe der Tapferkeit auf sich nehmen zu müssen. Allerdings muß man sich auch von einer übertriebenen und ungesunden Art des sich selbst Hindrängens zum Martyrium hüten, wo man mehr auf den eigenen Entschluß baut, als auf die Kraft Gottes, die zum Martyrium ruft und die die Kraft zum Durchhalten gibt. Und der hl. Polykarp – ein Zeuge aus der Verfolgungszeit der Kirche – lehrt: “Darum, Brüder, loben wir nicht die, welche sich selbst zum Martyrium darbieten: so lehrt auch nicht das Evangelium.”
Nicht das Martyrium des Blutes, sondern das stille Martyrium in allen Gelegenheiten des Lebens ist von uns selbst anzustreben. Sollten wir aber zum Martyrium des Blutes gerufen werden, dann möge uns dazu auch die Kraft geschenkt werden!

4) Die Tugend der Tapferkeit befähigt auch zur Geduld im Standhalten bei Schwierigkeiten. Die Geduld ist aber kein rein passives und wahlloses Hinnehmen von irgendwelchen Übeln, sondern – wie der hl. Thomas lehrt – ihre Wurzel ist ein kraftvoll zupackendes Festhalten am Guten, woraus erst die Kraft zum “passiven” Standhalten kommt. Geduld bedeutet also nie den Ausschluß von energisch zupackender Aktivität, sondern nur den Ausschluß von Traurigkeit und Verwirrung des Herzens. Dennoch ist die Geduld nicht schon die ganze Tugend der Tapferkeit. Denn der Tapfere erträgt nicht nur ohne Verwirrung die unabwendbaren Übel, sondern er unterläßt es auch nicht, das Übel aktiv anzugreifen und abzuwenden, wenn dies sinnvoll möglich ist. Dazu lehrt der hl. Thomas brauche der Tapfere sogar den gerechten oder sogar den heiligen Zorn, um das Übel anzuspringen. Es ist also kein Zeichen christlicher Tugend, daß man dem Unrecht in unrühmlicher Schwäche freien Lauf läßt, sondern im rechten Maß muß auch zornig für die Ehre Gottes und für die verletzte Gerechtigkeit gekämpft werden. Wegschauen, Mundhalten, Weghören – sind in diesem Fall ein Zeichen der Feigheit und der christlichen Tapferkeit völlig entgegengesetzt.
Geduld ist also nicht immer vollkommener oder besser als mutiger Angriff. Gerade unseren bequemen Christen müsste man dies besonders deutlich in Erinnerung rufen. Wohl aber läßt unsere Welt und unsere Zeit manchmal gar keine andere Möglichkeit, als bloß geduldig zu widerstehen, wenn die Möglichkeiten des mutigen und zornigen Angriffs gegen das Böse einfach nicht mehr gegeben sind.

5. Die Tapferkeit im gewöhnlichen Leben
Nicht nur in gefährlichen Ausnahmesituationen ist die Tapferkeit wichtig, sondern zuallererst im alltäglichen Leben.
Die hl. Theresia von Avila schreibt in ihrer Lebensbeschreibung: “Ich behaupte, ein unvollkommener Mensch habe dazu, den Weg der Vollkommenheit zu gehen, mehr Tapferkeit nötig, als dazu, plötzlich Märtyrer zu werden”.
Die dauernden, kleinen Widerwärtigkeiten des Alltags fordern also unsere Tapferkeit mehr heraus, als das einmalige, große Opfer unseres Lebens. Nehmen wir diese Widerwärtigkeiten nur widerwillig an, werden sie uns Anlaß zu Empörung, Ungeduld und Mutlosigkeit. Nehmen wir sie aber bereitwillig im Geist der Tapferkeit an, wachsen durch sie Bußfertigkeit, Geduld, Nächstenliebe, Verständnis und viele andere Tugenden. Der alltägliche Kampf mit den großen und kleinen Schwierigkeiten des Lebens ist also das Feld, in dem wir die Tugend der Tapferkeit üben können. Dort können wir unsere Tapferkeit immer zeigen und sie so weit trainieren, daß wir dann, wenn es wirklich drauf ankommt, weder wegschauen, noch weghören oder den Mund halten. Eine Form der Tapferkeit im Alltagsleben ist die geistliche Tapferkeit. Es gibt so viele Gelegenheiten, wo wir tapfer zu unserem Glauben und zur Kirche stehen könnten und auch sollten. Tapfer kann ein Christ zum Beispiel sein, wenn er zu seiner Glaubensüberzeugung steht, auch wenn er dafür ausgelacht wird. Tapfer kann er sein, wenn er im Freundeskreis, der am Sonntag etwas gemeinsam unternehmen will, ohne dabei den Besuch der Sonntagsmesse einzuplanen, sagt, daß man deshalb nicht mitmachen könne. Oder jeden Tag neu gegen seine eigenen Schwächen und Fehler anzukämpfen, auch wenn ich weiß, dass es mich Mühe kostet und es schwer sein wird, einen Sieg zu erringen, das ist geistliche Tapferkeit. Und in diesem Kampf schöpft der Christ Kraft aus dem Glauben: “Alles kann, wer glaubt”, sagt der Herr (Mk 9,23).
Unter den Tugenden, die sich zur Tapferkeit gesellen müssen, weil sie aus ihr genährt werden, ist als erstes die Tugend der Großherzigkeit zu nennen. Sie bewirkt, daß wir aus unserer kleinen Enge heraustreten und uns zum Wohl Aller für das Große und Wertvolle in Dienst nehmen lassen. Die Großherzigkeit ist sodann die Schwester der Tugend der Freigebigkeit, die – wie der hl. Thomas lehrt – die Liebe zum Geld und zu den materiellen Gütern in uns mäßigt, um es großzügig in den Dienst großer Werke zu stellen. Tapferkeit, Großerzigkeit und Freigebigkeit – diese drei Tugenden sollten nicht nur den Einzelnen zu einem Menschen und Christen machen, sondern auch unser gemeinschaftliches Bemühen sein. Gelegenheit dazu gibt es genug!

R. Knittel.